Wann spricht mein Kind „zu spät“? Meilensteine der Sprachentwicklung

„Mein Nachbarskind konnte mit 18 Monaten schon ganze Sätze sprechen – meins sagt kaum ein Wort. Ist das noch normal?“ Diese Frage höre ich in meiner Praxis fast täglich. Als Eltern vergleichen wir unwillkürlich, und gerade beim Sprechenlernen scheinen die Unterschiede zwischen Kindern riesig. Doch wann ist eine Verzögerung tatsächlich besorgniserregend, und wann liegt Ihr Kind einfach im individuellen Tempo noch im Normalbereich?

In diesem Beitrag erkläre ich Ihnen die wichtigsten Meilensteine der Sprachentwicklung und gebe Ihnen konkrete Orientierungspunkte, wann Sie sprachtherapeutische Unterstützung suchen sollten.

Jedes Kind ist anders – aber es gibt Richtwerte

Vorab das Wichtigste: Sprachentwicklung verläuft individuell. Manche Kinder sind frühe Sprecher, andere lassen sich Zeit und holen dann plötzlich auf. Eine gewisse Bandbreite ist völlig normal. Trotzdem gibt es wissenschaftlich fundierte Meilensteine, die uns helfen, einzuschätzen, ob ein Kind auf dem richtigen Weg ist oder ob eine Abklärung sinnvär wäre.

Die Meilensteine im Überblick

0-6 Monate: Die Vorbereitung

Schon Neugeborene kommunizieren – durch Schreien, später durch Lächeln und erste Laute. In dieser Phase lernt Ihr Baby:

  • Auf Geräusche zu reagieren (dreht sich zur Schallquelle)
  • Unterschiedliche Schreie für verschiedene Bedürfnisse zu nutzen
  • Erste Laute zu produzieren: Gurren, Quietschen (ab ca. 2-3 Monaten)
  • Blickkontakt aufzunehmen und auf Ihr Sprechen mit Lächeln zu reagieren

Warnsignal: Ihr Baby reagiert nicht auf laute Geräusche oder zeigt kein Interesse an Ihrer Stimme – lassen Sie das Gehör überprüfen.

6-12 Monate: Das Plappern beginnt

Jetzt wird es spannend! Ihr Baby entdeckt seine Stimme und experimentiert:

  • Silbenketten wie „babababa“ oder „dadada“ (ca. 6-8 Monate)
  • Erste bedeutungsvolle Silben: „Mama“, „Papa“ (auch wenn noch nicht gezielt verwendet)
  • Verstehen einfacher Wörter wie „nein“ oder den eigenen Namen
  • Gesten nutzen: Winken zum Abschied, Zeigen auf Dinge

Richtwert mit 12 Monaten: Ihr Kind sollte erste Lautäußerungen produzieren und einfache Aufforderungen verstehen.

Warnsignal: Kein Plappern, keine Reaktion auf den eigenen Namen, kein Interesse an Kommunikation.

12-18 Monate: Die ersten Wörter

Das ist die Phase, in der viele Eltern ungeduldig werden. Hier sind die Unterschiede zwischen Kindern besonders groß:

  • Erste echte Wörter: 1-10 Wörter sind normal (z.B. „Ball“, „Auto“, „mehr“)
  • Zeigegesten werden wichtiger – Ihr Kind zeigt auf Dinge und „fordert“ Benennungen
  • Verstehen wächst rasant: Ihr Kind versteht viel mehr, als es sagen kann
  • Einwortsätze: „Mama“ bedeutet „Mama, komm her“ oder „Das gehört Mama“

Richtwert mit 18 Monaten: Mindestens 10-20 aktive Wörter, deutlich mehr passive (verstandene) Wörter.

Warnsignal: Weniger als 10 Wörter mit 18 Monaten → „Late Talker“ (Spätsprecher) – sollte beobachtet werden.

18-24 Monate: Die Wortschatzexplosion

Bei vielen Kindern passiert jetzt ein Sprung – der Wortschatz wächst explosionsartig:

  • 50-200 Wörter mit 24 Monaten sind üblich
  • Erste Zweiwortkombinationen: „Mama weg“, „Ball haben“, „Auto kaputt“
  • Fragen stellen (durch Intonation): „Papa?“
  • Körperteile benennen können

Richtwert mit 24 Monaten: Mindestens 50 Wörter und erste Wortkombinationen.

Warnsignal: Weniger als 50 Wörter mit 24 Monaten und keine Zweiwortsätze – hier sollten Sie handeln! Ein Sprachscreening ist jetzt wichtig.

2-3 Jahre: Sätze werden länger

Die Sprache Ihres Kindes wird nun komplexer und verständlicher:

  • 3-4 Wortsätze: „Ich will Saft trinken“
  • Wortschatz 200-500 Wörter (oder mehr)
  • Grammatik entwickelt sich: Mehrzahl, erste Vergangenheitsformen
  • Über 50% verständlich für Fremde (nicht perfekt, aber nachvollziehbar)
  • Warum-Fragen beginnen

Richtwert mit 3 Jahren: Mehrwortsätze, Grammatik entwickelt sich, ca. 75% Verständlichkeit.

Warnsignal: Nur Zweiwortäußerungen, kaum Grammatik, sehr schwer zu verstehen.

3-4 Jahre: Fast wie die Großen

Mit vier Jahren sprechen die meisten Kinder schon sehr gut:

  • Komplexe Sätze mit Nebensätzen: „Ich gehe nicht raus, weil es regnet“
  • Geschichten erzählen können (wenn auch noch einfach)
  • Fast alle Laute korrekt (außer vielleicht S, SCH, R)
  • Über 90% verständlich für Fremde
  • Grammatik weitgehend korrekt

Warnsignal: Stark eingeschränkte Satzlänge, viele Grammatikfehler, schlechte Verständlichkeit.

4-6 Jahre: Der Feinschliff

Jetzt werden die letzten Details perfektioniert:

  • Alle Laute sollten korrekt sein (spätestens mit 6 Jahren)
  • Komplexe Grammatik wird sicher beherrscht
  • Längere Geschichten können logisch erzählt werden
  • Präziser Wortschatz für Gefühle, Farben, Mengen etc.

Warnsignal: Deutliche Aussprachefehler (besonders bei mehreren Lauten), Grammatikprobleme, Schwierigkeiten beim Geschichtenerzählen.

„Late Talker“ – was bedeutet das?

Etwa 15-20% aller Kinder sind sogenannte „Late Talker“: Sie sprechen mit 24 Monaten weniger als 50 Wörter und bilden keine Zweiwortsätze. Die gute Nachricht: Die Hälfte dieser Kinder holt von selbst auf und spricht mit 3 Jahren normal (dann nennt man sie „Late Bloomers“).

Die andere Hälfte entwickelt jedoch eine behandlungsbedürftige Sprachentwicklungsstörung. Das Problem: Wir können mit 2 Jahren noch nicht sicher vorhersagen, welches Kind aufholt und welches nicht.

Meine Empfehlung: Warten Sie nicht ab nach dem Motto „Das verwächst sich schon“. Lassen Sie Ihr Kind mit 24 Monaten sprachtherapeutisch screenen. Frühe Förderung ist effektiver und verhindert Frustration beim Kind.

Wann sollten Sie definitiv handeln?

Vereinbaren Sie einen Termin bei einer Sprachtherapeutin oder einem Kinderarzt, wenn:

  • Ihr Kind mit 24 Monaten weniger als 50 Wörter spricht
  • Mit 3 Jahren keine Mehrwortsätze gebildet werden
  • Die Aussprache mit 4 Jahren für Außenstehende kaum verständlich ist
  • Ihr Kind dauerhaft frustriert ist beim Sprechen
  • Stottern länger als 6 Monate anhält oder sehr stark ausgeprägt ist
  • Ihr Kind kein Interesse an Kommunikation zeigt
  • Der Kindergarten Auffälligkeiten meldet

Was begünstigt eine gute Sprachentwicklung?

Sie können die Sprachentwicklung Ihres Kindes aktiv unterstützen:

Viel mit Ihrem Kind sprechen – im Alltag alles kommentieren: „Jetzt ziehen wir die Jacke an“, „Schau, ein roter Bus!“

Vorlesen, vorlesen, vorlesen – täglich Bilderbücher anschauen und darüber sprechen

Richtig stellen statt korrigieren – Wenn Ihr Kind „Ich bin gegangen“ sagt, antworten Sie: „Ja, du bist gegangen“ (korrektives Feedback ohne Tadel)

Bildschirmzeit begrenzen – Unter 3 Jahren möglichst kein Bildschirm, danach sehr begrenzt. Sprache lernt man im Dialog, nicht durch Zuschauen

Geduld zeigen – Lassen Sie Ihr Kind ausreden, auch wenn es langsam spricht

Singen und Reimen – Lieder und Fingerspiele fördern spielerisch die Sprachmelodie

Mehrsprachigkeit: Gelten andere Regeln?

Nein! Mehrsprachig aufwachsende Kinder durchlaufen dieselben Meilensteine – vielleicht mit leichter Verzögerung (2-3 Monate sind normal). Wichtig: Schauen Sie auf den Gesamtwortschatz über alle Sprachen hinweg. Wenn Ihr Kind 30 deutsche und 25 tschechische Wörter spricht, sind das 55 Wörter – also im Normalbereich!

Fazit: Vertrauen Sie Ihrem Bauchgefühl – aber handeln Sie bei Zweifeln

Die meisten Eltern haben ein gutes Gespür dafür, ob ihr Kind sich normal entwickelt. Wenn Sie sich Sorgen machen, nehmen Sie diese ernst. Eine sprachtherapeutische Abklärung gibt Ihnen entweder Beruhigung oder den rechtzeitigen Start einer Förderung.

Frühe Intervention ist der Schlüssel: Je früher eine Sprachentwicklungsstörung erkannt wird, desto besser sind die Therapieerfolge. Gleichzeitig gilt: Jedes Kind hat sein eigenes Tempo, und kleine Verzögerungen sind meist kein Grund zur Panik.


Sie sind unsicher, ob die Sprachentwicklung Ihres Kindes altersgemäß verläuft? Gerne berate ich Sie und führe eine umfassende Diagnostik durch – einfühlsam, spielerisch und in deutscher Sprache. Gemeinsam finden wir heraus, ob und welche Unterstützung Ihr Kind braucht.

Mehrsprachige Erziehung in Prag: Chance oder Überforderung?

Prag ist eine internationale Stadt – deutsche Expat-Familien, binationale Paare und tschechische Familien mit Deutschkenntnissen stehen häufig vor derselben Frage: Sollen wir unser Kind zweisprachig erziehen? Die Sorge, das Kind zu überfordern oder seine Sprachentwicklung zu verzögern, ist weit verbreitet. Als Sprachtherapeutin möchte ich Ihnen zeigen, warum mehrsprachige Erziehung in den meisten Fällen eine wunderbare Chance ist – und wann Sie tatsächlich aufmerksam sein sollten.

Die gute Nachricht: Kinder sind geborene Sprachlerner

Kinder verfügen über eine beeindruckende Fähigkeit, mehrere Sprachen gleichzeitig zu erlernen. Ihr Gehirn ist in den ersten Lebensjahren besonders aufnahmefähig und kann mühelos zwischen verschiedenen Sprachsystemen unterscheiden. Studien zeigen, dass zweisprachig aufwachsende Kinder häufig sogar Vorteile entwickeln: Sie sind flexibler im Denken, können besser zwischen Aufgaben wechseln und zeigen oft ein besseres Verständnis für verschiedene Perspektiven.

In Prag haben Kinder zudem den großen Vorteil, beide Sprachen – Deutsch und Tschechisch – im natürlichen Umfeld zu erleben: zu Hause, im Kindergarten, auf dem Spielplatz und später in der Schule.

Mythos „Sprachverwirring“: Was ist dran?

Viele Eltern sorgen sich, dass ihr Kind durch zwei Sprachen verwirrt werden könnte. Tatsächlich ist es völlig normal, dass zweisprachige Kinder:

  • Etwas später mit dem Sprechen beginnen – meist nur um wenige Monate verzögert, weil sie zwei Sprachsysteme aufbauen
  • Sprachen mischen – besonders zwischen dem 2. und 4. Lebensjahr ist das Sprachwechseln („Code-Switching“) ein Zeichen von Sprachkompetenz, nicht von Verwirrung
  • In einer Sprache zunächst einen kleineren Wortschatz haben – die Gesamtzahl der Wörter über beide Sprachen hinweg liegt aber im normalen Bereich

Diese Phänomene sind Entwicklungsschritte, keine Störungen. Mit etwa 4-5 Jahren trennen die meisten Kinder ihre Sprachen sicher und sprechen beide altersgemäß.

Wann ist Vorsicht geboten?

Mehrsprachigkeit an sich führt nicht zu Sprachproblemen. Wenn jedoch bereits eine Sprachentwicklungsstörung vorliegt, zeigt sie sich in allen Sprachen des Kindes. Achten Sie auf folgende Warnsignale:

  • Ihr Kind spricht mit 2 Jahren noch keine Wörter (in keiner Sprache)
  • Mit 3 Jahren werden keine Zweiwortsätze gebildet
  • Die Aussprache ist auch für nahestehende Personen schwer verständlich (ab 4 Jahren)
  • Grammatikfehler bleiben über das 5. Lebensjahr hinaus stark ausgeprägt
  • Das Kind zeigt wenig Interesse an Kommunikation

In diesen Fällen sollten Sie eine sprachtherapeutische Diagnostik in Erwägung ziehen – und zwar in beiden Sprachen, um ein vollständiges Bild zu erhalten.

Praktische Tipps für erfolgreiche Mehrsprachigkeit

1. Konsequenz ist der Schlüssel

Das Prinzip „Eine Person – eine Sprache“ hat sich bewährt: Wenn möglich, sollte jedes Elternteil konsequent in seiner Muttersprache mit dem Kind sprechen. Das Kind lernt so, Sprachen mit Personen zu verknüpfen.

2. Keine „Zwangssprache“

Wenn Ihr Kind in einer Sprache antwortet, die Sie gerade nicht sprechen, ist das in Ordnung. Wichtig ist, dass es beide Sprachen hört und versteht. Das aktive Sprechen folgt oft später.

3. Qualität vor Quantität

Ihr Kind braucht ausreichend Input in beiden Sprachen. Experten empfehlen mindestens 20-30% Kontaktzeit pro Sprache. Nutzen Sie Bücher, Lieder, Spiele und vor allem: natürliche Gespräche im Alltag.

4. Geduld haben

Mehrsprachige Entwicklung verläuft in Wellen. Manchmal dominiert eine Sprache, dann die andere – das ist normal und kein Grund zur Sorge.

5. Positive Einstellung vermitteln

Ihre eigene Haltung prägt Ihr Kind. Wenn Sie Mehrsprachigkeit als Bereicherung sehen und beide Sprachen wertschätzen, wird Ihr Kind das auch tun.

Besonderheiten in Prag: Deutsch als Minderheitensprache

Wenn Deutsch die Familiensprache ist, Ihr Kind aber einen tschechischen Kindergarten oder eine tschechische Schule besucht, wird Tschechisch oft zur dominanten Sprache. Das ist eine natürliche Entwicklung. Um das Deutsche zu stärken, können Sie:

  • Regelmäßige Besuche bei deutschsprachigen Verwandten einplanen
  • Deutschsprachige Spielgruppen in Prag besuchen
  • Deutsche Medien (Bücher, Hörspiele, Filme) anbieten
  • Deutsche Vereine oder Freizeitaktivitäten nutzen

Wann brauchen Sie professionelle Unterstützung?

Eine sprachtherapeutische Beratung ist sinnvoll, wenn:

  • Sie unsicher sind, ob die Sprachentwicklung Ihres Kindes altersgemäß verläuft
  • Ihr Kind in beiden Sprachen deutliche Schwierigkeiten zeigt
  • Die Erzieher:innen im Kindergarten Auffälligkeiten bemerken
  • Ihr Kind frustriert ist oder sich ungern mitteilt

Als Sprachtherapeutin kann ich eine differenzierte Diagnostik in beiden Sprachen durchführen und Sie individuell beraten – denn jede Familie und jedes Kind ist anders.

Fazit: Chance nutzen!

Mehrsprachige Erziehung in Prag ist für die allermeisten Kinder eine große Chance und keine Überforderung. Kinder mit zwei oder mehr Sprachen entwickeln wertvolle Fähigkeiten, die ihnen ein Leben lang zugutekommen – beruflich, kulturell und persönlich.

Vertrauen Sie auf die natürliche Sprachfähigkeit Ihres Kindes, schaffen Sie eine sprachreiche Umgebung in beiden Sprachen und holen Sie sich Unterstützung, wenn Sie unsicher sind. Dann steht einer erfolgreichen mehrsprachigen Entwicklung nichts im Wege.


Haben Sie Fragen zur mehrsprachigen Entwicklung Ihres Kindes? Ich berate Sie gerne – auf Deutsch und mit Verständnis für die besonderen Herausforderungen internationaler Familien.